Mittlere Mühlstraße 10

Das älteste und dazu noch weitgehend in ursprünglicher Form erhaltene Wohnhaus Hockenheims liegt an einer Straße, deren Name nahelegt, dass es am Ort noch zwei andere Mühlstraßen geben dürfte. Genauso ist es auch, wie an der Oberen sowie der Unteren Mühlstraße erkennbar. Diese Eigenheit unserer Stadt ist sehr selten. Die drei Mühlstraßen gehören zum historischen Siedlungskern und waren ursprünglich miteinander verbunden. Die Mittlere Mühlstraße ist als „Hollergessl“ bekannt, denn insbesondere auf den Grundstücken Richtung Westen standen früher zahlreiche Holundersträucher.

Entsprechende Funde machen es wahrscheinlich, dass in diesem Teil Hockenheims sich zwischen 200 und 300 n.Chr. die ersten dauerhaften Siedler niederließen, vermutlich germanische Sueben/ Alemannen. Bei der fränkischen Landnahme um das Jahr 500 wurden diese ersten „Hockenheimer“ großenteils getötet und ihre Hütten niedergebrannt.

Die neuen Herren, die auch Namensgeber des Ortes waren (Hoggo´s Heim = Hockenheim), siedelten einige hundert Meter weiter nördlich in dem Bereich, wo jetzt die Zehntscheune steht. Dort entstand das Ortszentrum, der „Untere Freihof“ (frei von Fondiensten), aus dessen Hauptgebäude sich später die „Silberne Kanne“ (heute „Hotel Kanne“) entwickelte.

Im Zuge der langsamen Ortsvergrößerung wurde auch der ursprüngliche Siedlungskern wieder bebaut und es entstand ein zweites Hofgelände, der „Obere Freihof“, welcher im Jahr 1418 von Pfalzgraf Otto in Erbpacht vergeben wurde. Den Hofbereich begrenzten die Obere Mühlstraße, die Obere Hauptstraße und die Obere (später Mittlerer) Mühle. Den zentralen Weg bildete die Mittlere Mühlstraße, was nahelegt, dass das Verwaltungszentrum des Freihofs dort lag. Dieses war sicher das größte Anwesen des Hofes und es ist wahrscheinlich, dass es durch das ursprünglich zusammengehörige Gelände mit der heutigen Bezeichnung Mittlere Mühlstraße 10-14 gebildet wurde, denn dieses umfasste bis zu seiner Dreiteilung fast 50 Ar. Damit steht das hier beschriebene Objekt möglicherweise wohl auf diesem früheren Zentralhof, der im 19. Jahrhundert zunächst durch Teilverkauf (heute Nr. 14) und später durch Erbteilung (Nr. 10 und 12 mit je 15,48 Ar) aufgeteilt wurde. Allerdings bildeten auch die heutigen Anwesen Nr. 20 bis 24 ursprünglich ein einziges Grundstück mit ähnlicher Größe wie Nr. 10-14.

Weil Hockenheim im Jahr 1689 im Rahmen des Orleanischen Erbfolgekrieges dem Erdboden gleich gemacht worden war, wurde es erforderlich, baldmöglichst neue feste Unterkünfte für Mensch und Tier zu schaffen. Als eines der ersten neuen Gebäude entstand 1698 das hier näher beschriebene Wohnhaus, dessen Baujahr durch Einkerbungen an einem massiven Türsturz aus Eichenholz im Obergeschoß dokumentiert ist. Es ruht auf Grundmauern, die aus unterschiedlich groß zugehauenen roten Sandsteinblöcken bestehen. Diese umfassen einen rechteckigen Kellerraum, dessen Decke auf Eichenbalken ruht. Außerdem wurde ein separater „Kriechkeller“ angelegt, in welchem seinerzeit Vorräte gelagert wurden. Die Sandsteine holte man sehr wahrscheinlich aus den Ruinen der Burganlage Wersau bei Reilingen.
Auf diesem Keller steht ein Fachwerkhaus mit drei Geschossen, davon zwei mit schrägen Wänden aufgrund des aufsitzenden Walmdachs. Alle Wände sowie die Zwischendecken werden gebildet durch Fachkonstruktionen aus Eichholz, die mit einem Stroh-/Lehmgemisch ausgefüllt ist. Diese Deckenfüllung ruht auf schmalen, ungehobelten Latten aus Eichenholz. Die Fußböden der Wohnräume bilden Eichenholz-Dielen, die Wände und Zimmerdecken sind verputzt. Die früher üblichen Nebengebäude wie Ställe, Backhaus und Schopfen werden jetzt als Wohnraum genutzt.

Interessant ist, dass das benachbarte Wohnhaus Nr. 12, welches bedingt durch eine Aufstockung vor rd. 50 Jahren äußerlich nicht mehr mit der Nr. 10 vergleichbar ist, ebenfalls auf Grundmauern aus rotem Sandstein erbaut ist, die einen alten Gewölbekeller bilden. Das lässt es möglich erscheinen, dass das früher darauf stehende Haus sogar etwas älter war, als das hier zu beschreibende Objekt.

Interessant ist auch, dass die Nachbarfamilien Geiß und Baumann miteinander verwandt sind und zu ihren Vorfahren Hartmann Baumann zählen, den ersten urkundlich bekannten Lehrer in Hockenheim. Ein Zimmer im Erdgeschoß des vom jetzigen Eigentümer vorbildlich instand gehaltene Wohnhauses diente der Überlieferung nach im 18. und evtl. auch noch Anfang des 19. Jahrhunderts als Schulraum für die Sonntagsschule der reformierten oder der lutherischen Kirchengemeinde und ist somit als ältestes noch bestehendes „Schulgebäude“ unserer Stadt anzusehen. Die verbreitete Meinung, dass hier Hartmann Baumann selbst gelehrt habe, kann allerdings nicht stimmen, denn dieser lebte gut 80 Jahre vor der Erbauung des hier beschriebenen Hauses.

Die frühere Zusammengehörigkeit der Anwesen Nr. 10 und 12 wird nicht nur durch die infolge Erbteilung genau gleiche Größe deutlich, sondern auch dadurch, dass nach Westen hin bis zu einem Großbrand im Jahr 1948 eine sehr große Scheune stand, die zu gleichen Teilen genutzt wurde. Lediglich eine Trennwand aus Holzlatten teilte das Gebäude. Beim Wiederaufbau entstanden zwei versetzt zueinander stehende Scheunen mit Stallungen. Die Eigentumsverhältnisse des Anwesens konnten von uns zurückverfolgt werden bis etwa 1870. In jener Zeit verstarb der Vater von Anna Katharina und Michael Baumann und alles spricht dafür, dass im Zuge der Erbauseinandersetzung zwischen den Geschwistern das Anwesen in gleich große Hälften geteilt wurde.

Anna Katharina heiratete den Landwirt Georg Schränkler II, der im Jahr 1882 verstarb. Zehn Jahre später segnete auch sie das Zeitliche. Aus der Ehe waren acht Kinder hervorgegangen, aus deren Reihen der 1866 geborene Sohn namens Johann Jakob Schränkler XII das Anwesen Nr. 10 übernahm. Aus notariellen Urkunden geht hervor, dass seinen Geschwistern dafür ein Gleichstellungsgeld von je 578,99 Mark zustand, der Gesamtwert des Anwesens also mit rd. 4.632 Mark angesetzt wurde. Seine sechs volljährigen Geschwister verzichteten auf die Auszahlung ihres Anspruchs und ermöglichten ihrem Bruder damit einen schuldenfreien Start.

Als 1919 auch das Ende des neuen Eigentümers gekommen war, folgte seine 1896 geborene Tochter Emma, die mit dem Landwirt Karl Großhans II verheiratet war.Dieser stammte aus einer der ältesten Hockenheimer Bauernfamilien, deren Hof in der Oberen Hauptstr. 39 immer noch steht. (vgl. separate Objektbeschreibung)

Der Emma Großhans war kein langes Leben beschieden. Sie verstarb im Jahr 1922 im Alter von 26 Jahren und hinterließ zwei Kinder, Lenchen und Ludwig, der 1943 in Russland fiel. Karl Großhans II verstarb 1968 im Alter von 72 Jahren. Tochter Lenchen aus erster Ehe nahm danach ihren Ehemann Wilhelm Geiß als Miteigentümer auf und beide führten die Landwirtschaft weiter. Aus Altersgründen endete 1990 die bäuerliche Nutzung.

Im Jahr 1997 ging das Anwesen mit dem schönen alten Fachwerkhaus unter Ausbedingung eines lebenslangen Wohnrechts für Lenchen Geiß an den Sohn Ludwig über.
 
Verfasser Horst Eichhorn unterstützt durch Ludwig und Lenchen Geiß sowie die Nachbarn Ludwig Baumann und Inge Markl.

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